Gießen-Marburg, 29. November 2019. Eigentlich sollte die Vorweihnachtszeit ruhig und besinnlich sein, eine Zeit der frohen Erwartung. Doch für viele ist sie genau das Gegenteil. Ein möglicher Weg, sich aus dem Kreislauf von Stress oder auch Traurigkeit zu befreien, ist Achtsamkeit zu üben. Wie das geht, erklärt Julia Hofmann, Psychotherapeutin am Vitos Klinikum Gießen-Marburg.
Die einen hetzen gestresst von Termin zu Termin oder von Einkaufstour zu Einkaufstour. Andere wiederum fühlen sich besonders einsam und bedrückt in dieser Zeit, die von scheinbarem Familienglück und heiler Welt nur so strotzt. Eine gute Unterstützung für beide Seiten ist Achtsamkeit. Das heißt: Trainieren, mit Geist und Körper im Hier und Jetzt zu sein. Aus dem therapeutischen Alltag einer psychiatrischen Klinik ist Achtsamkeitstraining nicht mehr wegzudenken – so auch am Vitos Klinikum Gießen-Marburg. Aber auch Menschen außerhalb eines klinischen Umfelds können davon profitieren.
Bewusst wahrnehmen, aber nicht werten
Achtsamkeit bedeutet, seine Aufmerksamkeit ganz und gar auf den Moment zu lenken. „Alle Dinge, Gefühle und Gedanken in diesem Moment sollen ganz bewusst wahrgenommen, aber – und das ist entscheidend – nicht bewertet werden“, erläutert Julia Hofmann. „Die Weihnachtszeit eignet sich besonders gut für Achtsamkeitsübungen. Es gibt so viele angenehme Gerüche und schöne Dinge rundherum.“ Der harzige Duft von Tannenzweigen, der frische Zitrusgeruch einer geschälten Mandarine, leuchtende Kerzen.
Ein Übungsbeispiel: „Nehmen Sie sich fünf Minuten Zeit für Ihren Lieblingstee. Währenddessen sollten Sie nichts anderes tun, das Handy weglegen, und nur für sich sein. Dann beobachten Sie, wie der heiße Wasserdampf aufsteigt. Nehmen Sie den Geruch wahr, die langsame Färbung des Wassers, wenn der Teebeutel eintaucht. Wenn sie merken, dass Ihre Gedanken abdriften, lenken Sie sie wieder sanft zurück auf die Teetasse. Beobachten Sie sich dabei: Wie geht es Ihnen, wie fühlen Sie sich dabei? Tut die kleine Auszeit Ihnen gut?“
Einfluss auf die eigenen Gefühle nehmen
Grundsätzlich trägt jeder Mensch die Fähigkeit zur Achtsamkeit in sich. Die meisten haben nur verlernt, wirklich aufmerksam zu sein. Es wieder zu üben, lohnt sich. „Viele wissen gar nicht, wie viel Einfluss man auf die eigenen Gefühle nehmen kann“, so die Psychotherapeutin. Die Rolle des interessierten Beobachters einzunehmen, der eine Situation nicht gleich bewertet, eröffnet einem die Wahl: Will ich meinen Stress, meinen Ärger oder meine Grübelei weiter anheizen oder tue ich lieber etwas, dass besser für mich ist?
Rausgehen, statt einigeln
Wer die Weihnachtszeit als einsam und bedrückend erlebt, könne zum Beispiel versuchen, genau entgegengesetzt der scheinbaren Bedürfnisse zu handeln. „Wenn man traurig ist, möchte man sich am liebsten zu Hause einigeln. Doch das macht die Situation oft noch schlimmer“, weiß Julia Hofmann. „Man kann stattdessen zum Beispiel auf den Weihnachtsmarkt gehen. Wichtig ist aber, den Ausflug achtsam zu erleben.“ Das heißt: Nicht die glücklichen Familien oder Paare beobachten und Wertungen wie ‚Die haben es gut, ich nicht!‘ vornehmen. Stattdessen lieber wertfrei erkennen, was es alles zu sehen gibt. Gerüche und Geräusche wahrnehmen und ein paar gebrannte Mandeln bewusst genießen, wenn einem danach ist.
Wegen ihrer positiven Effekte ist Achtsamkeit ein fester Bestandteil in der Therapie der verschiedensten psychischen Störungen. „Sie sollte aber eigentlich bei allen Menschen als Basis zur Erhaltung der eigenen Gesundheit eingesetzt werden“, sagt die Therapeutin.
Achtsamkeitsübungen für zwischendurch:
- IN EINE KERZE BLICKEN
Nehmen Sie sich fünf Minuten Zeit. Setzen Sie sich aufrecht, aber bequem an einen Tisch, auf dem eine brennende Kerze steht. Beobachten Sie die Flamme. Bleiben Sie mit Ihrer Aufmerksamkeit voll und ganz bei der Flamme. Nehmen Sie die tänzelnden Bewegungen wahr, ihre Reaktion auf einen kleinen Luftzug. Wie viele verschiedene Farben entdecken Sie? Was passiert mit dem Wachs? - EINE WALNUSS KNACKEN
Nehmen Sie sich fünf Minuten Zeit für das Knacken einer Walnuss. Fühlen Sie zunächst die Unebenheiten auf der Schale. Wo ist die Nuss glatt, wo ist sie spitz? Welches Geräusch gibt es beim Knacken? Wie sehen die Einzelteile aus? Betrachten Sie das Innenleben der Nuss, fühlen und riechen Sie. Dann essen Sie die Nuss langsam. Zerknacken Sie sie bewusst mit den Zähnen. Behalten Sie die Stücke im Mund und erleben Sie ganz bewusst den Geschmack.